Ich lernte Ben vor neun Jahren in einer Hotelbar kennen. Er sagte, ich sähe aus wie
eine Fee und ich lachte, doch in Wahrheit war ich bezaubert von seinem Lächeln und dem glitzernden Spott in seinen Augen, die ihre Farbe zu ändern schienen mit jeder Wendung unseres Gesprächs.
Meist waren sie grau, manchmal blau, doch an der Schwelle vom Abend zur Nacht, als er bat, in meinen Armen schlafen zu dürfen, da waren sie grün, wahrhaftig grün, und ich konnte ihm nicht
widerstehen. Ich war siebzehn und hielt mich für sehr erwachsen, Ben aber berührte meine Seele und er brach mir das Herz. So begann es, vor all diesen Jahren, und seit jener Nacht war ich niemals
fähig, ihn zu fürchten, auch nicht in den Zeiten der Finsternis, wenn der Abgrund ihn zu verschlingen drohte und er um sich schlug in Angst und Zorn und Scham.
Dies ist eine dieser Zeiten.
Der Abgrund hat sich aufgetan und Ben ist herabgetaumelt, dorthin, wo die Schatten lauern und namenlose Schrecken nach ihm greifen. Ich hatte immer geglaubt, wenn der
Himmel einstürze, so stürze er lautlos. Mit einem schweigenden Achselzucken würde das Universum unsere Träume abschütteln und uns mit ihnen. Bens Welt aber zerbrach mit einem lauten Klirren und
dem Geräusch reißenden Stoffes, als er in die Tiefen des Entsetzens fiel und alles mit sich riss, die Spiegel, die Lampen, die Vorhänge und auch das Messer, mit dem er die Geister abwehrte, die
ihn immer weiter trieben, weiter als je zuvor. Er hatte den Kampf beinahe verloren, als ich ins Zimmer stürzte. Die Klinge lag noch in seiner Hand, er stach nach den wabernden Schatten, die auf
ihn eindrangen in immer engeren Kreisen, siegessicher, trunken, bis ich mich dazwischen warf. Er fiel in meine Arme, ich spürte einen stechenden Schmerz, als das Messer mich streifte und Bens
Gewicht mich zu Boden riss. Ich weiß nicht, was ich tat, oder was ich sagte, nur dass ich weinte und die Schuld mir die Luft abschnürte wie ein eiserner Ring.
Hier sitzen wir in den Scherben seiner Seele. Das Hotelzimmer trägt die Spuren des Kampfes, die Spiegel sind zerschlagen, die Lampen zerbrochen, Bens Blut hat den Teppich
befleckt. Ich halte ihn, wie ich es immer getan habe, seinen Kopf an meiner Brust, und höre auf seinen Atem und das dumpfe Pochen in meinem Arm. Er liegt jetzt ruhig, die Augen geschlossen,
meinen Herzschlag an seinem Ohr. Dann aber kommt einer der beiden Polizisten auf uns zu und sagt: "In Ordnung, junge Frau, Sie können ihn jetzt uns überlassen", und bevor ich reagieren kann,
ergreift er Ben am Arm. Ben zuckt zusammen, versucht sich loszureißen, und als auch noch der andere Polizist herankommt, höre ich mich schreien.
"Fassen Sie ihn nicht an!" schreie ich und sehe sie zurückweichen. Bens Blick ist wirr. Da sind sie wieder, die Geister, sie haben sich versammelt, sie reihen sich auf an
den Rändern seines Bewusstseins und dort lauern sie, Schatten in den Schatten, und strecken ihre langen Hände nach ihm aus. Ich muss all meine Kraft aufbieten, all meine Macht, um sie fort zu
jagen, meine Stirn an Bens Stirn, mein Blick in seinem.
Ich bin müde. Mein Körper ist von bleierner Schwere, mein Kleid ist voller Blut und
Bens Haar ist klebrig unter meinen Händen. Die Angst kriecht mir den Nacken hinauf, ich sehe auf Ben herab, so erschreckend blass, wie viel Blut mag er verloren haben? Die Zeit ist wie eine zähe
Masse, sie dehnt sich, träge, widerwillig, als die Notärztin zu uns hinauf gelotst wird, gefolgt von den Sanitätern mit der Bahre. Sie müssen sich durch die Meute drängen, die an der Tür hängt
und sich weidet an dieser Katastrophe aus erster Hand, die starrt und glotzt und sich ins Zimmer schiebt. Morgen stehen wir dann alle in der Bildzeitung und ich bekomme doch noch die zehn Minuten
Berühmtheit, von denen Andy Warhol sagte, dass sie mir zustehen.
Die Ärztin kniet neben uns nieder, fühlt Bens Puls und stellt Fragen.
"Er hatte einen Nervenzusammenbruch", sage ich, denn was soll ich auch sagen. Was soll ich ihr erzählen von Illusionen und halben Wahrheiten, von getrennten Leben und
verwobenen Seelen, von Sehnsucht und Feigheit und der Fähigkeit, zuzuschlagen. Man muss die Seele eines anderen sehr genau kennen, um seine Welt zum Einsturz zu bringen. Sie beugen sich alle über
uns, die Ärztin und die Sanitäter, sie greifen nach ihm und Ben schreckt auf, will sie abwehren, doch ich schiebe meinen Kopf in sein Gesichtsfeld und nehme seine Hand.
Er sieht zu mir auf und sein Gesicht entspannt sich, während sie ihn untersuchen, mit schnellen geübten Bewegungen, die Sicherheit ausstrahlen und Ruhe.
"Fee", sagt er und dann lächelt er. Aber ich bin keine Fee, nicht mehr, ich war nie weiter davon entfernt als heute. Ich hätte ihn zurückreißen können, bevor er in den
Abgrund fiel, ich hätte es kommen sehen müssen, ich habe es kommen sehen. Doch ich hatte mich hinter meinem Stolz verkrochen, weil ich meinte, ihn mehr zu lieben als er mich, oder anders, oder
besser. Ich war beleidigt wie ein kleines Kind. Und hier liegt er nun in seinem Blut und vertraut mir noch immer und ich ertrage es nicht. Ich spüre Tränen auf meinem Gesicht, wische sie mit
meiner freien Hand fort und höre Ben murmeln.
“Weine nicht, meine Fee. Alles wird gut."
Aber ich weine doch, als sie Ben auf die Bahre legen, als die Polizisten die gaffende Meute zurückpfeifen und wir den Raum verlassen unter den gierigen Blicken. Die
Sanitäter schieben die Bahre geschickt um die Ecken, ohne anzustoßen oder das Tempo zu verringern, während wir durch die langen Gänge eilen und ich mich mühe, Schritt zu halten, Bens Hand fest in
meiner.
Auf der langen Fahrt ins Städtische Krankenhaus bleibe ich an seiner Seite, doch in der Notaufnahme werden wir getrennt. Ich muss Fragen beantworten und Formulare
ausfüllen, dann kümmert sich ein Arzt um meinen Arm. Er schließt die Wunde mit blauem Garn und ich sehe ihm zu, wie er die Nadel durch mein Fleisch schiebt, nach jedem Stich einen ordentlichen
Knoten macht und die Fadenenden kappt. Die frische Naht sieht aus wie Stacheldraht. Wie viele Nähte müssen sie in Ben machen? All das Blut auf dem Teppich, sein verklebtes Haar, da war eine Wunde
an der Stirn, vielleicht hat er den Kopf gegen die Wand geschlagen. Ich sehe seine Hände vor mir, seine Arme, alles voller Blut, der lange Schnitt quer über den Unterarm. Die Flecken auf seiner
Kleidung, hellrot, dunkelrot, manche schon bräunlich, und dann, als die Notärztin das T-Shirt hochschob, die Wunden am Bauch und an den Seiten. Messerschnitte, blutig und dunkel, klaffende
Ränder. Was haben die Schatten ihm angetan, dass er sich so zugerichtet hat. Was habe ich ihm angetan. Ich betrachte das Stückchen Stacheldraht in meinem Arm und wünschte, ich hätte mehr davon.
All die Nähte, die Ben bekommen wird, ich will sie lieber selber haben, als vor mir zu sehen, wie das Messer in seine Haut drang, sie teilte, wie das Blut hervorquoll und an seinem Körper
herablief, wie er ganz alleine seinen Kampf verlor und ich nicht bei ihm war.
Der Arzt hat die Hand auf meinen unverletzten Arm gelegt und fragt, ob es mir gut geht. Ich kann ihn nicht deutlich erkennen, ich kann ihm auch nicht deutlich antworten,
weil ich nicht aufhören kann, zu weinen. Er bietet mir etwas zur Beruhigung an, aber ich will nur wissen, wie lange sie an Ben herumnähen werden. Er ist sehr freundlich und erkundigt sich für
mich. Es wird noch dauern, eine Stunde bestimmt.
Ich lege mich auf eine Bank im Wartebereich der Notaufnahme. Die Beine auf der Lehne, die Augen geschlossen, in meinem blutigen Kleid mit verheultem Gesicht bin ich wohl
ein abstoßender Anblick. Hin und wieder kommen neue Patienten, alle setzen sich möglichst weit von mir weg, aber es ist mir egal. Ich kann mich nicht aufraffen, mich zu waschen, ich glaube nicht,
dass ich danach fähig wäre, das fleckige Kleid wieder anzuziehen, also ziehe ich es besser gar nicht erst aus. Und das Blut an meinen Händen werde ich ohnehin nicht los.
Pete kommt vorbei, gefolgt von Warwick und Marvin. Sie stehen vor meiner Bank, besorgt und nicht sicher, wohin mit ihrer Besorgnis, gefangen in ihrer
Verständnislosigkeit. So viele Jahre schon arbeiten sie mit Ben, leben mit ihm, oft genug auf engstem Raum auf den Touren. Sie kennen seine Vorlieben, seine Fehler, seinen Humor, seinen Spott,
doch die finstere Seite seiner Seele ist ihnen noch immer vollkommen fremd. Selbst Pete, der ihn besser kennt als die meisten anderen, der seine Gedanken teilt, wenn sie Songs schreiben, selbst
Pete weicht zurück, sobald die Geister sich erheben.
Sie haben Angst. Da stehen sie alle drei, treten von einem Fuß auf den anderen und ich sehe die Furcht in ihren Gesichtern, die Angst um Ben, die Angst vor Ben, die Angst
zu fragen, was geschehen ist, die Angst auch vor den möglichen Antworten. Der Rückzug ins Schweigen hat bisher immer funktioniert. Stillhalten und abwarten bis der Sturm sich legt und dann zurück
zur Tagesordnung. Jähzorn. Ben ist halt jähzornig, man gewöhnt sich dran. Nur diesmal nicht. Dieses hier lässt sie sprachlos zurück, und ich fühle mich außerstande, ihnen irgendetwas zu
erklären.
Sie haben ein paar von Bens Sachen aus dem Hotel mitgebracht und glücklicherweise passe ich in seine Hosen. Pete postiert sich vor der Tür der Besuchertoilette, damit ich
mich in Ruhe waschen kann. Es tut gut, saubere Sachen anzuziehen, besser, als ich gedacht hätte. Ich werfe mein Kleid in den Mülleimer. Warwick und Marvin kommen aus der Cafeteria zurück, als ich
mich wieder auf meine Bank setze. Sie nötigen mir ein Brötchen auf und etwas zu trinken, sie flüchten sich in Fürsorge und ich bin ihnen dankbar. Als es nichts mehr an mir zu versorgen gibt,
schicke ich sie zurück ins Hotel, bevor die Sprachlosigkeit zurückkehrt. Sie bemühen sich sehr, nicht erleichtert auszusehen, aber es gelingt ihnen nicht.
Schließlich darf ich zu Ben. Sie haben ihn bereits auf die Station gerollt, er liegt blass und schmal im Bett, die frischen Nähte sind mit einem dünnen Wattepolster
zugeklebt wie der Schnitt an meinem Arm. Man hat ihm einen OP-Kittel angezogen, seine Sachen waren wohl nicht mehr zu gebrauchen. Er schläft, die Decke bis zum Bauch, den Kopf zur Seite gedreht.
Ich stelle die Tasche, die die Jungs aus dem Hotel mitgebracht haben, in den Schrank, dann setze ich mich zu Ben ans Bett, lege meine Finger über seine und sehe zu, wie die klare Flüssigkeit aus
der Flasche an dem Gestell neben ihm stetig in seine Hand tropft.
Die Zeit vergeht.
Sie vergeht langsam, wenn man nur dasitzt und sich bemüht, seinen Geist zu leeren. Ich will nicht nachdenken. Noch nicht. Die Zukunft lauert drohend hinter jeder
Überlegung, ich weiche ihr aus, wende mich ab, um ihr hämisches Grinsen nicht zu sehen. Ja, sie wird mich bekommen. Sie wird ihre Klauen in mich schlagen und mich fortreißen von Ben. Aber jetzt
noch nicht. Jetzt gehört er noch mir, mein Geliebter, und ich verbanne die Zukunft aus meinen Gedanken, flüchte zurück in die Zeiten, die wir teilten, die kostbaren Tage, die Nächte, das
gestohlene Glück.
Wir haben stets genommen, was wir kriegen konnten, ohne einen Blick zurück. Es war mir egal wen ich belog, wen ich betrog, wann ich dafür würde zahlen müssen. In Bens
Gegenwart gab es für mich immer nur Ben, und eine Nacht in seinen Armen schien stets ein Weilchen Höllenfeuer wert.
Wenn sie spielten, saß ich gerne in den Schatten hinten auf der Bühne, eingehüllt in das unglaubliche Getöse, das mir den Atem nahm. Das Schlagzeug direkt an meinem
Trommelfell, die Gitarren knapp dahinter und oben drüber Bens Stimme mit aller Kraft, die er besaß.
"Ich kann eigentlich gar nicht singen", hatte er in unserer ersten Nacht gesagt, als er erzählte, er sei Musiker. "Aber es scheint niemanden zu stören, solange es nur
laut genug ist." Und laut genug war es immer, wenn sie da vorne herumtanzten, die Jungs und Jessie, die Bassistin, und wenn Ben sich mal wieder völlig verausgabte. Ich mochte ihn, wenn er von der
Bühne kam, erhitzt, verschwitzt und randvoll mit Adrenalin.
Und ich mochte ihn, wenn wir uns später in irgendeinem Hotelzimmer geliebt hatten und er faul in meinen Armen lag, schläfrig, zerzaust und zufrieden wie ein
vollgefressener Kater.
"Nicht schnurren", sagte ich dann und piekste ihn solange in die Seite, bis er meine Hände festzuhalten versuchte und ihm dabei einfiel, dass er gar so müde dann doch
noch nicht war.
Aber am meisten mochte ich ihn, wenn er nur mir zu gehören schien, wenn wir für ein paar Tage irgendwohin verschwanden, nach Schottland, um ein Weilchen durch die Heide
zu rollen, oder an den äußersten Rand von Frankreich, wo der Wind einen fast von den Klippen weht. Und dann waren da die Wochen in Calgary, in Bens altem Haus, das Dach immer noch leck, hinter
dem morschen Zaun nur Felder und Wald, die Tage voller Lachen und Liebelei, die Nächte auch. In einer Nacht zogen wir hinaus, um auf einer mondhellen Wiese zu picknicken. Ben briet Pfannkuchen
über dem Feuer, die selbst mit einem ganzen Eimer Ahornsirup noch bemerkenswert scheußlich waren, dann griff er nach seiner Gitarre und sang ein grottenschlechtes Lied von einem wilden Herz und
einer finsteren Nacht. Wir waren betrunken, er forderte mich zu einer Gegenstimme heraus und setzte den Einsatz lächelnd fest auf ein Kleidungsstück für jeden schiefen Ton. Also schlang ich meine
Stimme um die seine, kreuz und quer und drumherum, und mühte mich redlich. Doch es war Sommer, da trägt man nicht viel, und bald warf Ben die Gitarre beiseite und kam grinsend in meine nackten
Arme gekrabbelt, um mir sein wildes Herz zu zeigen. Wir kicherten dumm herum, bis ich ihn rückwärts ins Gras drückte, er roch nach Rauch und Wein und angebranntem Ahornsirup, und die Nacht war
warm auf meiner Haut.
Ja, wir hatten gute Zeiten. Unbeschwerte, lichte Zeiten, doch es heißt, wo Licht sei, da sei auch Schatten, und es ist wahr.
Wenn die Finsternis über Ben hereinbrach, dann kam sie stets unvermittelt. Sie schlich sich nicht an, über Tage hinweg, sie kreiste ihn nicht langsam ein, um sich
geruhsam über ihm auszubreiten. Nein. Sie fiel aus dem Hinterhalt über ihn her, geweckt von einer Verunsicherung, einer halben Beleidigung, einem kleinen Zipfelchen verletztem Stolz. Sie sprang
ihn von der Seite an und stieß ihn hinab in den Wirbel aus Zorn und Scham, Selbsthass, Wut und Angst vor der eigenen Wertlosigkeit, bis der Kreis sich schloss und Ben keinen Ausweg mehr sah, als
um sich zu schlagen, um allen zu beweisen, wie Recht sie daran taten, vor ihm zurückzuweichen. Allen, nur mir nicht.
Ich weiß nicht, warum ich ihn nie fürchtete.
Vielleicht, weil ich wusste, was am Grunde all dessen lag: Die Angst, nicht liebenswert zu sein, wenn er seine Wut zuließ, so wie man es ihm eingebläut hatte, als er zu
klein war, um es zu verstehen. Vielleicht auch, weil ich eine pathetische Fee war, die starrköpfig daran festhielt, dass Liebe die Antwort ist und die Erlösung und die Heilung und sei es das
Letzte, was ich tue. Vielleicht auch einfach nur, weil ich nie dazu kam, mich zu fürchten. Ich dachte nicht nach, bevor ich mich zwischen Ben und die Geister warf, seinen Armen auswich, nach ihm
griff und ihn festzuhalten versuchte. Es war nie leicht, es ging nie schnell und ich kam nicht immer ungeschoren davon. Aber das kümmerte mich nicht. Ich war nur dankbar, wenn er zeitig genug
alle anderen verjagt hatte, wenn niemand mehr da war, um zuzusehen, wie er schließlich zusammenbrach. Denn seine Scham hinterher schmerzte mich weit mehr als die blauen Flecke, die ich
gelegentlich davontrug.
Die Tür wird aufgerissen und Jessie stürmt ins Zimmer, mit offenem Haar und Sorge im Blick. Sie steht vor dem Bett und sieht auf Ben herab, dann beugt sie sich herunter
und streicht ihm über die Stirn. Die Zärtlichkeit in ihrer Geste macht, dass ich schon wieder weinen muss, weil es so gar nicht ihre Art ist. Jessie ist nie freundlich, wenn es sich verhindern
lässt, aber in all diesen Jahren habe ich doch ein paar Blicke in ihr Herz erhascht und ich mag sie sehr.
Sie sieht mich an, ich sehe die Angst in ihren Augen und als ich versuche, sie zu beruhigen, ertappe ich mich dabei, dass ich flüstere.
"Aber was zur Hölle ist eigentlich passiert?" flüstert Jessie zurück, "ich komme eben ins Hotel zurück und sie sagen mir, dass Ben das Zimmer verwüstet hat und verletzt
im Krankenhaus liegt und niemand kann mir sagen, warum und weshalb und - und seit wann bist du eigentlich hier?"
"Komm", sage ich, "lass uns eine rauchen gehen."
Der Raucherraum ist gleich gegenüber der Station. Ein einsamer Mann sitzt dort. Jessie und ich setzen uns in eine Ecke und ich hoffe, er kann kein Englisch und versteht uns nicht, aber eigentlich
ist es mir auch egal.
"Ben hatte einen Nervenzusammenbruch", sage ich, "er hat sich in sein Zimmer eingeschlossen und randaliert und Pete hat mich angerufen, damit ich komme und ihn da
raushole, bevor die Polizei es tut. Er hat gedroht, sich umzubringen, wenn irgendjemand das Zimmer betritt. Und er hatte ein Messer. Es war fürchterlich. Ich schätze, es hat schon gestern
angefangen."
"Oh ja", sagt Jessie, "das Konzert war wirklich unglaublich scheiße. Selbst damals in Südfrankreich, als er die Grippe hatte und rumtorkelte, war es noch Klassen besser
als das, was er da gestern abend veranstaltet hat." Sie fuchtelt mit ihrer Zigarette herum.
"Gestern Mittag ist er aus Calgary zurückgekommen, weißt du überhaupt, dass er zu Hause war?"
Ich nicke. Ja, Pete erzählte es mir. Er erzählte auch von dem Kerl, den Ben in seinem Bett fand, und von Tamara, die die Gelegenheit ergriff, reinen Tisch zu machen. Sehr
reinen Tisch. Nach allem, was Pete wusste, landete sie ein paar ausgesuchte Tiefschläge. Was Pete nicht wusste, war, welche Tiefschläge ich zuvor gelandet hatte und wie wenig von Ben übrig war,
als er zu Tamara ging und sie den Rest zerbrach.
"Calgary", sagt Jessie jetzt kopfschüttelnd, "ich weiß sowieso nicht, was die Nummer sollte. Wir hatten gerade mal zwei Tage frei und die verbringt er dann im Flugzeug.
Und dann hat er sich wohl mit dieser Schlampe in die Haare gekriegt, und als er zurückkam, war er völlig neben der Kappe. Na ja, eigentlich war er schon Sonntag total daneben, nachdem du weg
warst - du warst ja ziemlich plötzlich weg. Was ist da eigentlich passiert? Ihr wart das ganze Wochenende schon so komisch, Ben und du, und dann die Party am Samstag, als du mit Dave ins Bett
gegangen bist-"
“Ich bin nicht mit Dave ins Bett gegangen.“
“Sah aber so aus."
"Sollte ja auch so aussehen."
"Aha", sagt Jessie, "na, das hat doch prima geklappt. Dave hat ein hübsches Veilchen."
"Ja, es ist etwas aus dem Ruder gelaufen", gebe ich zu. "Ich kam morgens aus Daves Zimmer und da stand Ben. Er sah fürchterlich aus, vielleicht hat er da die ganze Nacht
gestanden. Er ging auf mich los, dass ich mit Dave geschlafen hätte und ich ging auf ihn los, dass ich ihm nicht gehöre und ins Bett kann mit wem ich will - und weil wir etwas lauter wurden, kam
Dave an die Tür. Er wollte wohl ins Bad und hatte nur ein Handtuch um und strubbelige Haare und so. Jedenfalls sah er ziemlich nach Liebhaber aus und da ist Ben ausgerastet und hat ihm eine
reingehauen."
Ich ziehe an meiner Zigarette und Jessie sieht mich an.
"Also hast du auf der Party nur mit Dave rumgeknutscht, um Ben eine reinzuwürgen, ja?"
Ich nicke.
"Toll", sagt sie.
"Ja. Und ungeheuer erwachsen, ich weiß."
Sie schüttelt den Kopf und pustet ein paar Rauchwölkchen in die Luft.
"Du hättest mit Ben ins Bett gehen sollen", stellt sie dann fest, und ich nehme an, ich mache ein dummes Gesicht.
"Also sag schon, warum schlaft ihr nicht mehr miteinander? Doch nicht etwa wegen Tamara, oder? Ich meine, es gab früher schon Tamaras, und du hattest auch die halbe Zeit
irgendwelche Männer, und an denen habt ihr euch auch nicht gestört."
Ich sehe Jessie nicht so oft, dass ihre unverblümte Art mich nicht ab und zu aus dem Konzept bringen könnte, und so starre ich ein paar Augenblicke nur vor mich
hin.
"Na ja", sage ich schließlich, "wir können doch nicht ewig so weiter machen. Also ich jedenfalls nicht. Ich kann das nicht mehr. Es ist mir zu wenig, oder zu viel, oder -
ich weiß auch nicht. Meine Beziehungen gehen in die Brüche, weil Ben immer dazwischen steht, egal ob die Betreffenden von ihm wissen oder nicht. Seine Beziehungen gehen auch in die Brüche, aus
den gleichen Gründen, aber das will er nicht sehen. Ich weiß nicht, was er denkt, wie es weitergehen soll. Vielleicht denkt er auch gar nicht. Aber ich will nicht für alle Zeiten eine Affäre und
daneben kaputte Beziehungen. Ich will einen Mann, der nur mir gehört, mit dem ich mein Leben teilen kann, im Alltag, in der realen Welt. Also heißt das wohl, dass ich Ben hergeben muss. Ihn ganz
hergeben. Nur weiß ich leider nicht, wie ich ohne ihn leben soll nach all diesen Jahren."
"Ich liebe ihn", setze ich hinzu.
"Ich weiß", sagt Jessie, einmal ganz ohne sarkastischen Unterton. "Das war nie zu übersehen. Und Ben liebt dich. Auch das ist nicht zu übersehen."
"Ja", sage ich müde, "aber die Liebe ist ein mannigfaltig Ding, nicht wahr? Und ich fürchte, dass Bens und meine nicht dieselbe ist. Gott, ja, wenn ich ehrlich zu mir
selbst bin, dann weiß ich, dass Ben der Mann ist, mit dem ich leben will. Aber ich habe so verdammte Angst, dass er das nicht will, nicht so wie ich, oder dass es nicht klappt und ich ihn dann
ganz verliere."
"Und hast du ihm das gesagt?" fragt sie.
"Na ja", sage ich. "Nicht verbal."
"Sondern?"
"Na, irgendwie nonverbal halt."
"Verstehe. Indem du dich nonverbal an Dave rangeschmissen hast, ja?"
"Nein. Das war doch nur, weil ich sauer war. Weil Ben einfach nicht gemerkt hat was ich ihm sagen wollte."
"Oh Gott." Jessie verdreht die Augen, wieder ganz sie selbst. "Er hat deine Gedanken nicht gelesen? Ein Mann, der keine Gedanken lesen kann? Da hätte ich aber auch zur
Strafe schnellstens den nächstbesten Schwachkopf abgeleckt."
Ich muss lachen. Es tut gut, zur Abwechslung mal einfach über die Absurdität des Ganzen zu lachen.
"Herrje", sage ich und wische mir die Augen. "Was für ein Desaster. Was bin ich bloß für ein Idiot."
"Ja", lächelt Jessie. "Aber sieh es positiv: Ihr habt bewiesen, wie hervorragend ihr zusammenpasst."
Ich zünde mir noch eine Zigarette an und wir rauchen schweigend, Jessie mit einem gelegentlichen Kopfschütteln. Ich bin froh dass sie da ist, es ist gut, mit jemandem zu
reden. Auch wenn es nur die halbe Wahrheit ist. Denn leider war Daves blaues Auge nicht das Ende vom Lied.
Nachdem er Dave geschlagen hatte, zerrte ich Ben von ihm weg, ein Stück den Flur herab, und ich beschimpfte ihn. Eine Frau kam aus einem der Hotelzimmer, im Schlafanzug,
aber sie beschwerte sich nicht, sie starrte nur. Ben zerrte mich durch die Tür ins Treppenhaus. Wir waren im fünften Stock. Er warf mir seinen Zorn entgegen, hinter dem noch klar der Schmerz zu
erkennen war: Was war los mit mir? Wenn ich ihn nicht mehr wolle, dann solle ich es sagen, er habe das Recht auf eine Erklärung. Wozu war ich hergekommen? Was habe er mir getan, dass ich vor
aller Augen mit einem anderen Kerl ins Bett stieg, und dann auch noch mit Dave, diesem Lackaffen, diesem Schönling? Ich rauschte die Treppe herunter, aber er holte mich ein und riss mich zurück.
Das war im vierten Stock.
"Antworte mir", schrie er, "verdammt noch mal, antworte mir endlich!"
Und da wirbelte ich zu ihm herum und schüttete meine Wut über ihm aus. Oh, und es tat gut. Es tat so verdammt gut, es einfach alles in eine große dreckige Welle zu
packen, meine Frustration, meine Unfähigkeit, meine Angst, meine Scham, und es alles über ihn hinwegrollen zu lassen ohne Rücksicht auf Verluste. Und auch ohne Rücksicht auf die Wahrheit.
Was ging es ihn an, mit wem ich ins Bett stieg? In Wirklichkeit sei es ihm doch scheißegal, von wie vielen Kerlen ich mich ficken ließ, solange nur alle glaubten, dass
ich noch immer ihm gehöre und er mich haben könne, wann immer er wolle. Ich hätte keine Lust mehr, mich von ihm benutzen zu lassen. Und ich sei es leid, dass er in meinem Leben
herumpfusche.
"Du machst meine Beziehungen kaputt, jede einzelne, und du machst es mit Absicht! Es hätte klappen können dieses Mal, es war alles in Ordnung, bis er mitgekriegt hat,
dass ich letzten Sommer mit dir in Schottland war statt mit Anja in Hamburg!"
"Du hattest eine Menge Spaß in Schottland! Und ich habe dich nicht gezwungen mitzukommen!"
"Nein, aber du musstest ja unbedingt dieses Scheißfoto schicken, ganzseitig übers Fax! Du hast doch gehofft, dass er das sieht!"
"Er war ein Idiot!" stieß Ben hervor, auf dem Weg nach unten, "du hast gesagt, du liebst ihn nicht, du hast gesagt, er engt dich ein und bricht dir die Flügel!"
"Du hast gesagt, er bricht mir die Flügel! Du hast mir das eingeredet!"
"Jetzt reicht es aber!" Ben trat mit aller Kraft gegen das Treppengeländer im dritten Stock, aber ich war noch nicht fertig.
"Du willst doch gar nicht, dass ich mit jemandem glücklich werde, weil ich dann für dich nicht mehr verfügbar bin! Denn ich bin ja so praktisch, nicht wahr? Ich wärme
dein Bett und dein Ego und dann verschwinde ich wieder und mache keine Probleme. Aber ich habe es satt, deine Geliebte zu spielen, hörst du? Ich habe es satt! Geh doch zu deiner Tamara,
wahrscheinlich passt sie wirklich zu dir!"
Ich kehrte ihm den Rücken, aber ich kam nicht weit. Drei Stufen weiter unten drehte er mich grob zu sich um.
"Ach das ist es, ja? Du bist sauer, weil deine Beziehung den Bach runter ist, aber meine funktioniert? Was kann ich dafür, dass du es viel zu lange bei diesem Idioten
ausgehalten hast, du solltest froh sein, dass du ihn los bist! Und ja, verdammt, es läuft gut mit Tamara, auch wenn dir das nicht passt!"
Als ich ihn von mir stieß, stolperte er ein Stück die Treppe herunter.
"Lüg dich doch nicht selber an!" schrie ich und folgte ihm. "Es läuft gut? Sie weiß doch praktisch nichts von dir, sie hat sich nie auch nur für einen Blick unter die
Oberfläche interessiert, aber vermutlich würde sie da eh nichts erkennen, und eigentlich ist es dir ja auch scheißegal!" Ich versetzte ihm einen Stoß und er stolperte weiter herab. "Ja, ich weiß,
wenn eine aussieht wie Tamara, wen kümmert da ein Hirn oder ein Herz oder andere Nebensächlichkeiten!" Noch ein Stoß. "Was macht es schon, dass sie blöd ist wie ein Sack Nägel, dafür ist sie ja
gut im Bett, nicht wahr, und macht ordentlich was her!" Und noch ein Stoß. "Und fürs Verständnis hast du ja mich, richtig? Ich kenne dich ja ach so gut. Und ich verstehe immer alles, einfach
alles, auch all das, was alle anderen nicht wissen wollen!" Wieder ein Stoß. "Ja, deine Wutanfälle zu ertragen, dafür bin ich gut genug, und dich hinterher vom Boden aufzusammeln, wenn der
Katzenjammer kommt!"
Er packte meine Arme, stieß mich in eine Ecke und drückte mich gegen die Wand. Das war im zweiten Stock. Ich konnte sehen, wie die Geister in seinen Augen zu tanzen
begannen. "Ja", zischte ich, "schlag zu. Na los, schlag zu, so wie bei Dave. Worauf wartest du? Hast du etwa Hemmungen? Bist du noch nicht so weit? Dann tob ein bisschen, komm, das hilft. Hau ein
paar Mal gegen die Wand, schmeiß ein paar Sachen rum, darin bist du doch gut. Und wenn ich hinterher ein paar blaue Flecke habe, schieb es einfach auf die Geister, so wie immer!"
Ben taumelte zurück. Den Ausdruck in seinen Augen hatte ich nie zuvor gesehen. Da wusste ich, dass er fallen würde, aber ich floh. Ich floh vor ihm, vor mir und vor dem
Abgrund zu unseren Füssen.
Das ist der schäbige Teil der Wahrheit.
Aus Richtung der Station ist ein Gerumpel zu hören, eine Tür schlägt, etwas klirrt vernehmlich, dann folgt ein Schrei.
"Ben", sagt Jessie, und genau das denke ich auch. Wir springen auf, werfen unsere brennenden Zigaretten unisono Richtung Aschenbecher und hechten durch die Tür. Ich renne
den Stationsflur entlang, Jessie dicht auf den Fersen, stoße in der Tür zu Bens Zimmer mit einer Schwester zusammen, dränge mich herein. Er steht vor dem Bett, Angst und Verwirrung im Blick, und
müht sich, den Pfleger abzuwehren, der ihm den Weg zur Tür versperrt. Die junge Schwesternschülerin hat das Tablett noch in den Händen, zu ihren Füßen die Scherben einer Tasse und eine Pfütze
Tee, mittendrin die Nadel von dem Tropf, den Ben sich aus der Hand gerissen hat. Jessie versucht den Pfleger von Ben wegzuziehen, redet auf ihn ein, ertränkt ihn in einem englischen Wortschwall.
Ben taumelt, streckt eine Hand aus, ich fange ihn auf und wir landen auf dem Bett. Er zittert so sehr, dass ich ihn an mich drücke, so fest ich es wage mit all den frischen Nähten an seinem
Körper. Sein Atem wird ruhiger, die Panik vergeht. Als er mich schließlich ansieht, sind seine Augen dunkel vor Erschöpfung.
"Du brauchst Ruhe", sage ich, aber er schüttelt müde den Kopf.
"Sie sind hier. Hinter meinen Lidern, sobald ich die Augen schließe." Er richtet sich auf und legt eine Hand an mein Gesicht. "Singst du für mich?"
Ich nicke stumm und rutsche ans Kopfende des Bettes. Ben kommt in meine Arme, lehnt den Rücken gegen meine Brust. Als ich mit den Fingerspitzen über seine Stirn streiche
und dann über die Lider, schließt er die Augen. Ich drücke die Lippen auf die glatte Haut hinter seinem Ohr, dann beginne ich zu summen, leise erst, vorsichtig, bis ich mich gefangen habe, bis
der Schmerz vergeht, die Schuld, die Trauer, bis es so ist, wie es sein soll, wie es immer war, und die Worte zu mir zurückkehren.
Down the garden path, beloved, for the time is nigh...
Bens Hand schiebt sich in meine, er atmet langsam und ruhig und ich spüre, wie er dem Schlaf entgegen gleitet. Die Schatten sind fort, zumindest für eine Weile. Immer
noch summend hebe ich den Kopf und sehe in das Gesicht der kleinen Schwesternschülerin. Ich lächele sie an und sie lächelt schüchtern zurück, dann blicke ich mich um und höre, wie sich die
Realität um mich zusammenzieht, gefolgt von diesem scharfen, klickenden Geräusch, mit dem das Universum in seine Halterung zurückschwingt.
In der Tür steht die Stationsschwester, unschlüssig, zögernd, augenscheinlich nicht gewohnt an tobende Patienten und singende Besucher, denn dies ist die Unfallchirurgie,
nicht die Psychiatrie. Der Pfleger scheint weniger beeindruckt, sein Gesichtsausdruck ist missbilligend, und Jessie neben ihm hat sich heute wirklich nicht gut in der Gewalt, denn ich ertappe sie
schon wieder mit weit mehr Liebe im Blick, als sie jemals zugeben würde.
Ich entschuldige mich bei der Schwester für die Unordnung und die Aufregung, die wir verursacht haben. Sie kommt zu uns ans Bett, schiebt Bens Kittel hoch und sieht nach
den Verbänden. An zwei Stellen sind frische Blutflecke. Als sie einen Pflasterstreifen löst, taucht Ben aus seinem Halbschlaf auf, doch diesmal bleibt er ruhig, sieht ihr nur träge zu, wie sie
die Naht kontrolliert. Sie sieht ihm prüfend ins Gesicht.
"Sie haben viel Blut verloren und sollten schlafen", sagt sie. "Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen noch einmal ein leichtes Beruhigungsmittel."
Ich übersetze, aber Ben schüttelt den Kopf.
"Bleibst du noch eine Weile?", fragt er mich und ich nicke. "Dann ist es gut."
"Im Moment möchte er nichts", sage ich zu der Schwester, "wenn er wieder unruhig wird, werde ich klingeln."
Sie nickt, öffnet einen weiteren Verband und holt frische Kompressen aus dem Schrank. Die Schülerin kehrt die Scherben zusammen und wischt den Tee auf. Der Pfleger steht
immer noch misstrauisch im Raum, ich nehme an, er hält Wache.
Jessie setzt sich auf den Stuhl neben dem Bett und besieht sich Bens lädierte Hand.
"Hallo Jessie", sagt Ben.
"Du siehst aus, als wäre jemand mit der Axt auf dich losgegangen", antwortet sie unfreundlich.
"Ja", seufzt Ben, "da hast du wohl Recht."
"Du bist ein gottverdammter Idiot, Ben."
"Ja, da hast du wohl auch Recht."
Jessie schnaubt abfällig. Die Schülerin trägt die Scherben hinaus, die Stationsschwester hat ihre Inspektion beendet und verlässt den Raum, gefolgt von dem Pfleger.
"Ich geh dann auch mal", sagt Jessie. "Oder braucht ihr noch irgendwas?"
"Nein", antworte ich, "aber danke, dass du da warst."
Sie schnaubt noch einmal und steht einen Moment unschlüssig vor dem Bett. Dann beugt sie sich schnell herunter, küsst Ben, wirft mir ein "Pass auf ihn auf, ja?" zu und
ist verschwunden.
Wir sitzen schweigend. Meine Finger gleiten an Bens Armen entlang, dann über die Brust und herunter zu seinem Bauch. Ich kann die Verbände durch den Kittel fühlen.
"Hast du Schmerzen?"
"Nein", antwortet er, "ich glaube, da war etwas in dem Tropf."
"Kann ich irgendetwas für dich tun?"
"Nein", sagt er.
"Oder ja", setzt er nach einer Pause leise hinzu.
Und wieder nach einer Pause, und noch ein bisschen leiser: "Du könntest mich küssen, wie in den guten Zeiten. Als wäre alles in Ordnung."
Man sollte nicht weinen, wenn der Mann, den man liebt, einen Kuss möchte. Man sollte sowieso nicht so viel weinen wie ich an diesem Tag. Aber schon gar nicht, wenn man
stattdessen einen Kuss haben kann und wenn ihn zu küssen stets der Himmel auf Erden war, damals, in den guten Zeiten.
Bens Gesicht ist blass und müde, als ich ihn in meinen Armen ein wenig zur Seite schiebe, damit er den Kopf weit genug drehen kann, um mich anzusehen. Nein, es ist nicht
alles in Ordnung. Wir sind nicht in Ordnung. Wir sind aus den Fugen geraten, aus den schmalen, zerbrechlichen Fugen, die wir so sorgfältig gekittet hatten.
Freunde, das wollten wir immer sein, und das waren wir auch, in den Wochen, häufig den Monaten, wenn wir uns nicht sahen, meilenweit getrennt und trotzdem nie weit fort.
Wenn das Band zwischen uns zu sein schien, was wir glaubten, das es sein sollte: Eine Seelenverwandtschaft, Vertrauen, absolute Offenheit, ich hier, er dort, zwischen uns ein Kontinent und zwei
Faxgeräte. Er weiß Dinge von mir, die ich niemals aussprechen würde, und er hat sie schriftlich.
Es sind drei Kartons voll Faxblätter, ganz oben in meinem Schrank. Sie handeln nicht von Liebe, sie erzählen von Bens Leben und dem meinen, von meiner Seele und der
seinen, von Träumen, Ängsten, schnödem Alltag, und auch von den Frauen an seiner Seite und den Männern, mit denen ich mein Leben zu teilen versuchte. Sie erzählen von Freundschaft, von
Vertrautheit, von dem, was uns immer das wichtigste schien in der wachsenden Nähe über die Kontinente hinweg, bis er jeden finsteren Ort kannte, den ich in mir trage. Und bis ich lernte, seine
Geister beim Namen zu nennen und schließlich wirklich zu der Fee wurde, die er schon immer in mir sah.
Ja, wir waren Freunde. Solange Ben auf seinem Kontinent blieb, und ich auf meinem. Solange er keine Gelegenheit hatte, die Arme auszubreiten, und ich nicht, mich lachend
hineinzuwerfen, damit er mich herumschwang, einmal, zweimal, und mich wieder auf den Boden stellte, strahlend und ein wenig schwindlig. Der erste Kuss war immer sanft, fast unschuldig, fast
unsicher, ob es wahrhaftig wieder geschehen würde.
"Klick", sagte ich dann, und "Ja", sagte Ben, denn er hatte es auch gehört, das Geräusch, mit dem sich der Schalter umlegte in unseren Köpfen oder unseren Herzen oder wo
immer er sitzen mochte. Der zweite Kuss war niemals sanft. Er wischte die Freundschaft weg, er spülte das Leben fort, das wir führten, andere Männer, andere Frauen, Beziehungen, Verpflichtungen,
fort damit. Zurück blieben nur Ben und ich, atemlos, unfähig, uns wieder loszulassen, bis wir uns irgendwo ein ruhiges Eckchen suchten, um uns tief ineinander zu vergraben.
Aber nicht heute. Heute streicht Ben mit einem Finger unter meinem Auge entlang und betrachtet die Feuchtigkeit auf seiner Fingerspitze.
"Du weinst zuviel", sagt er und dann küsst er mich, sehr langsam, sehr zärtlich, sehr lange. "Fee", flüstert er schließlich dicht an meinem Mund, "wir müssen - "
"Sch", mache ich und dann sind meine Lippen auch schon wieder auf seinen.
Wir müssen nichts. Oder wenn wir etwas müssen sollten, dann will ich nicht. Nicht heute. Ich bin müde, Ben ist erschöpft, mein Geist ist leer geweint, der seine ist
abgekämpft. Nein, heute müssen wir gar nichts mehr, heute möchte ich nur noch geküsst werden. Einmal noch sein Kopf auf meinem Arm, seine Lippen, sein Atem, seine Zunge an meiner, und alles
andere vergessen. Am liebsten würde ich mich noch viel enger um ihn wickeln und mich für eine kleine Weile mit ihm davonstehlen, fort von Schuld und Blut und Schmerz, dorthin, wo weitaus
elementarere Bedürfnisse herrschen als das, sich selbst zu verstehen, und wo man nicht mehr denkt, sondern einfach nur tut, was das Herz begehrt.
Ben wird immer schwerer in meinen Armen, ich spüre, wie sich die Stille in ihm ausbreitet und er langsam hinabsinkt, dem Schlaf entgegen. Sein Mund liegt immer noch an
meinem, sein Kuss wird weich und träge und lässt mich lächeln.
"Wie unhöflich, beim Küssen einzuschlafen" sage ich und er grinst, die Augen geschlossen.
"Aber so gemütlich", murmelt er.
Ich streiche ihm das Haar aus der Stirn.
"Schlaf."
"Ja. Wir reden morgen."
Ich antworte nicht. Der kleine Rest von ihm, der noch ein bisschen wach ist, gibt mir einen letzten Kuss. Ich wünschte, er würde noch einmal die Augen öffnen und mich
ansehen, denn ich weiß, wir werden morgen nicht reden.
Ich werde nicht mehr hier sein, wenn er aufwacht.
Es ist an der Zeit, mehr als einen Kontinent zwischen uns zu legen. Ich werde das tun, was zu tun ich mich immer weigerte und woran nicht nur eine meiner Beziehungen
zerbrach: Ich werde das Faxgerät abschalten und herausfinden, wie es sich anfühlt, das Leben ohne Ben. Wo beginnt er, wo höre ich auf? Er ist schon so lange ein Teil von mir, wer werde ich sein,
wenn ich ihn aus mir herausreiße?
Draußen wandert die Sonne dem Horizont entgegen, sie überzieht den blassblauen Himmel mit rötlichen Streifen, dann taucht sie hinter die Bäume und lässt uns in Dunkelheit zurück. Ich mag die
Dunkelheit. Ich mag es, wie sie sich sanft zu uns hereinschleicht und uns einhüllt in Stille und trügerischen Frieden. Die Nacht war immer gut zu mir in meinem Leben, ich habe sie nie gefürchtet,
oder wenn doch, dann war ich zu jung, um mich zu erinnern.
Woran ich mich erinnere, das sind die Nächte mit Ben, unbeschwert und ohne Zukunft, wenn ich in seinen Armen lag und ihm Geschichten erzählte von Königskindern und
vergangenen Reichen, von alten Göttern und anderen Welten, von all den Dingen, die nicht sind, aber sein könnten. Auf feingewebte Illusionen verstanden wir uns gut. Manches Mal sang Ben für mich,
wob ein Netz mit seiner Stimme und warf es nach mir aus. Ich verfing mich gern darin, ließ mich einwickeln, betören, herabziehen wie die Rheinschiffer vor dem Felsen der Lorelei. Die hohen Töne
waren stets mein Untergang. Bens Stimme brach sich an den Klippen und ich ertrank.
Es war nie viel Zeit, die uns blieb. Wir lebten in getrennten Welten, ich bewegte mich auf geruhsamen Pfaden, beendete die Schule, begann ein Studium. Bens Leben wurde
derweil unstet, er begann exzessiv zu touren, als sei er auf der Flucht. Immer wieder, immer öfter, streiften seine Wege meine Welt und meine Reaktionsgeschwindigkeit war hoch. Eine gestohlene
Nacht hier, eine dort, mal zwei, mal drei, eine Woche war ein kostbares Geschenk. Zweimal gelang es uns, einen ganzen Monat zu ergattern, so viele Tage, so viele Nächte, dass man sie beinahe zu
zählen vergaß. Als währe es ewig, dieses schwindlige Glück, an das ich mich viel zu schnell gewöhnte. Es war nie leicht, es abzustreifen und in die Wirklichkeit zurückzukehren, und jedes Mal
wurde es schwieriger. Für mich, und auch für Ben, ich konnte es in seinen Augen sehen, wenn wir uns trennten. Aber darüber sprachen wir nicht. Das war die Grenze, die wir nicht zu überschreiten
wagten. Wir hatten unsere Seelen ineinander gewoben, lange vor jeder Möglichkeit, auch unsere Welten zu verbinden und nun war das Band zwischen uns zu kostbar, viel zu kostbar für die Wahrheit
hinter dem Lachen und der Liebelei.
Bens Atem geht ruhig, ich lege meine Hand über sein Herz, dass ich die Schläge an meinen Fingern spüren kann.
Träumst du?
Bist du hinabgeglitten in die Welt jenseits des Schlafs, wo sich die Fetzen unserer Erlebnisse vermischen und neu zusammensetzen zu seltsamen Bildern? Was entsteht dort
aus diesem Tag, wirbelt dein Geist die Bruchstücke durcheinander und wäscht den Schrecken heraus, oder lauern dort die Schatten auf neue Nahrung, um dich zu quälen?
Nein. Das Pochen unter meinen Fingern ist von beruhigender Gleichmäßigkeit und du liegst so friedlich gegen meine Brust, so warm und schwer, wie es immer war und wie ich
wünschte, dass es immer bleiben könnte.
Wie viele Nächte haben wir so gesessen, einer in den Armen des anderen, wie viele Nächte, Ben, seit jener allerersten, als du mich auf deinen Armen in die Badewanne
trugst, um mich zu halten, wie ich dich jetzt halte, und mich zu waschen, lächelnd und in mein Ohr summend, bis ich die Augen schloss und die Welt um mich versank und ich keinen anderen Wunsch
mehr hatte, als dass du mich zurück ins Bett tragen und mich gleich noch einmal lieben mögest. Und du lachtest leise, den Mund in meinem Haar, und flüstertest an meinem Ohr:
"Oh ja, meine schöne Fee, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir es noch bis ins Bett schaffen werden."
Ich höre noch das Lied, das du für mich gesungen hast in jenem schäbigen Hotelzimmer, als ich siebzehn war und wir glaubten, dass diese eine Nacht alles sei, was wir
jemals von einander haben könnten. Ich wusste, du würdest mir das Herz brechen und ich dachte, wenn ich den vollen Preis bezahlen muss, dann will ich, dass es das wert ist.
Nun, es war es wert.
All diese Jahre.
© Carolin Schlipf MMVI