Berithir

Später hieß es, sie sei den Fluss heraufgekommen, in einer Barke aus hellem Holz. Kein Ruder war zu sehen, wie von Geisterhand geführt glitt sie über das Wasser. Der Himmel war blau. Es war ein Frühlingstag, hieß es, wie es nur einen in hundert Jahren gab. Der Himmel so strahlend. Das Vogelgezwitscher so hell und klar. Und die Luft, die Luft war erfüllt von Erwartungen, selbst im Wind lag Verheißung. Zwischen den großen Ufersteinen reckten die Schwertlilien ihre blauen Köpfe der Barke entgegen, als sie ans Ufer glitt und Berithir sich erhob. Ihr Haar war blütengeschmückt, sagten die einen, wie Perlen saßen fremdartige kleine Blumen in dem kunstvollen Flechtwerk, das einer Prinzessin des Westens angemessen war. Nein, erzählten die anderen, das Haar floss offen ihren Rücken herab. Hell und schwer fielen die Strähnen bis fast auf die Ränder der Barke, vom gleichen Farbton wie das Holz, oder war es doch kein Holz? War es nicht ebenmäßig und rein gewesen und hatte es nicht geschimmert wie poliertes Elfenbein? Und hatte man nicht Schnitzereien gesehen, vorne am Bug, geheimnisvolle Zeichen, Ornamente von hoher Kunstfertigkeit, nicht nur am Bug, nein, die ganze Barke war ein Meisterwerk der Schnitzkunst, reich verziert und von unermesslichem Wert. Berithir aber, warfen die dritten ein, Berithir überstrahlte alles. In ihrem blauen Kleid – Schwertlilienfarben, riefen die vierten, schwertlilienfarbene Seide, wie sie kein Mensch zu färben vermag – in ihrem langen Kleid mit den geschlitzten Ärmeln richtete sie sich auf und setzte ihre bloßen Füße auf unsere Ufersteine. Langsam stieg sie herauf, während die Barke immer kostbarer wurde, das Kleid immer prächtiger, und ihre Schönheit mit jeder Wiederholung wuchs.

Am Anfang aber waren wir allein.

Ich saß im Gebüsch, gelehnt an meinen Lieblingsbaum, die Augen geschlossen. Warum ich aufsah, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es ein Geräusch, vielleicht ein falscher Ton im Murmeln des Flusses. So kam es, dass ich sie heraufkommen sah, ich allein, denn sie kam herauf, doch nicht über den Fluss. Sie erhob sich aus dem Wasser, glitzernde Tropfen rannen über ihr Gesicht und das lange blonde Haar. Blassblau klebte das Kleid an ihrem Körper wie eine nassglänzende Schuppenhaut, bis sie es von ihren Beinen löste, und dem Fluss den Rücken kehrte. Sie war hellhäutig, hellhäutiger als wir alle, deren Gesichter von der Arbeit im Freien gezeichnet waren, und ja, sie war schön, schon damals, vor den Erzählungen.

Berithir nannten wir sie, die Dame vom Fluss. Ich bin die Letzte, die sie noch gekannt hat. Alle anderen sind schon fort. Jetzt kommen die Kinder zu mir, um die Geschichte zu hören. Vielleicht schicken ihre Eltern sie: Geht, lasst es euch noch einmal erzählen, bevor die Alte ins Gras beißt. Erzähle uns, rufen die Kinder, erzähle uns von Berithir! Ist es wahr, dass sie nicht sprach? Hat man wirklich nie erfahren, woher sie kam und wohin sie verschwand? Und trugen die Obstbäume, unter denen sie zur Blütezeit gewandelt war, tatsächlich in jenem Herbst doppelte Last? Und sag, wie sehr hast du sie geliebt?

Ich erzähle die Geschichte, die sie hören wollen. Manchmal ist eine gute Geschichte die bessere Wahrheit. Euch aber will ich berichten, wie es wirklich war. Ob ich sie geliebt habe? Nein.

Unser Dorf ist klein. Die Menschen kennen sich, jeder hat seine Aufgabe. Ich mag es, wenn die Dinge bleiben, wie sie sind. Jetzt, am Ende meines Lebens, sagen die Leute: Ach ja, sie ist zu alt für Veränderungen. Aber es ist nicht das Alter. Es ist die Zufriedenheit. Wenn man zufrieden ist mit seinem Leben, dann braucht man keine Abenteuer. Alles in der Welt hat seinen Platz. Man sollte Bescheidenheit zeigen und Respekt vor der natürlichen Ordnung der Dinge, dann ist das Leben erfüllt von Ruhe und Zufriedenheit. Das wusste ich schon immer.

Berithir sprach nicht, das ist wahr. Ob sie nicht konnte, oder nicht wollte, fanden wir nie heraus. Aber über sie sprachen alle. Am Brunnen, an der Mühle, auf den Feldern wurde gemunkelt und getuschelt. Es seien nicht nur ihre helle Haut und das seidene Kleid gewesen, die ihr als Unterpfand edler Abstammung einen Platz im Herrenhaus gesichert hätten, nein, der Herr selbst sei ganz vernarrt in sie. Und sein Sohn wich ihr nicht mehr von der Seite, jeden Wunsch las er ihr von den Augen ab. Man sah ihn, wie er sie unter den Obstbäumen herumführte. Er begleitete sie zum Fluss, wo sie gerne auf den Ufersteinen saß, aber nie das Wasser berührte. Man munkelte sogar, er habe sich ein neues Wams nähen lassen, aus blauem Samt. Eines der Dorfmädchen, die hin und wieder zu Näharbeiten ins Große Haus gerufen wurden, wollte es gefertigt haben. Das wolle er tragen, tuschelte sie, um die Fremden zu beeindrucken.

Denn täglich erwarteten wir die Ankunft der Männer, die Berithir zurückbringen würden. Sicherlich suchte man nach ihr. Ihre Familie, wo immer sie sein mochte, würde ein so liebliches Wesen nicht einfach verloren geben. Ein ganzer Trupp Krieger würde kommen. Ob sie wohl beritten wären? Auf edlen Pferden mit fremdländischem Schmuck?

Endlich würde das Dorf ihre Herkunft erfahren. Ihre Herkunft und die Dankbarkeit ihrer Familie. Und die Geschenke - sicherlich gäbe es Geschenke für die Menschen, die die verloren geglaubte in ihrer Mitte willkommen geheißen hatten. So fanden sich immer ein paar Dörfler, die ihre Arbeit vernachlässigten, um am Waldrand und am Flussufer Ausschau zu halten.

Doch das Blütenfest ging vorüber, ohne dass ein fremder Fuß unseren Boden betrat.

Eine neue Melodie fügte sich in den Klang des Getuschels. Besorgnis machte sich breit, da Berithirs Retter auf sich warten ließen. Wenn sie nun gar nicht kämen? Wenn sie das Dorf übersähen, verborgen zwischen Fluss und Wald? Zu selten traf man Fremde aus den Nachbardörfern, war die Kunde von Berithirs Ankunft wohlmöglich gar nicht verbreitet worden? Musste die Arme vielleicht ihr ganzes Leben in der Fremde verbringen? Und gäbe es doch kein neues Dach für die Hütte? Keine zweite Milchkuh?

Manchmal sitze ich noch immer unter meinem Lieblingsbaum am Fluss und sehe auf das Wasser hinaus, das uns Berithir gab und wieder nahm. Die Heimat, lehrte mich meine Mutter, ist das höchste Gut der Menschen. Man muss seine Wurzeln bewahren und diejenigen schützen, die einem am Herzen liegen. Das ist nicht immer einfach. Doch mit Ruhe und Entschlossenheit vermag man die richtige Entscheidung zu treffen. Als Berithir verschwand, trauerte das Dorf. Lange beklagte man den Verlust ihrer Schönheit, ihres Lächelns, und der Verheißungen, die sie mit sich brachte. Doch die Ernte war reich in jenem Jahr und bald ging das Leben, das so vielen armselig erschienen war im Licht des erwarteten Wohlstands, wieder seinen vertrauten, guten Gang. Und während an langen Winterabenden die Fäden der Geschichte zu kunstvollen Mustern verwoben wurden, dachte ich manchmal zurück an die Nacht, in der ich Berithir dem Fluss zurückgab, und war dankbar, das Richtige getan zu haben.

 

© Carolin Schlipf MMV